Struppi und Burli sind seit ihrem Welpenalter zusammen. Aufgewachsen und eingesperrt in einem ehemaligen Stallabteil, hatten sie ihr Gefängnis fünf Jahre (!) lang kein einziges Mal verlassen. Als Tierschützer sie von dort herausholten, waren die Helfer genauso geschockt wie die Hunde. Die beiden Rüden fürchteten sich sogar vor dem Tageslicht, das sie niemals gesehen hatten. Nach einem Zwischenaufenthalt in einer Tierpension wurden Struppi und Burli ins Kremser Tierheim gebracht. Denn dort werden Hunde „mit Vergangenheit" nicht nur „verwahrt", sondern liebevoll resozialisiert und therapiert. Sogar scheinbar hoffnungslose Fälle haben in dem kleinen Heim dank intensiver Betreuung wieder zurück in ein normales – oder zumindest fast normales – Hundeleben gefunden.
Trennung der „Angstgemeinschaft"
Warum also sollte das bei den beiden Mischlingsrüden nicht auch gelingen? Wichtig war es, den plötzlichen Ortswechsel gleich zu nutzen, um bestehende und eingefahrene Strukturen aufzuweichen. Dazu mussten Struppi und Burli erst einmal getrennt werden. Was sich für den Leser gefühllos und sogar brutal anhört, war leider unvermeidbar, um den Tieren dauerhaft helfen zu können. Denn um Verhalten ändern zu können, muss es gelingen, erlernte Verhaltensmuster irgendwie zu durchbrechen, in diesem Fall die panische Angst vor Menschen und Berührungen. Sind Struppi und Burli zusammen, reagieren sie nicht nur panisch, sondern sie bestärken sich auch gegenseitig in ihrem angstgeprägten Verhalten. Die Anwesenheit des anderen gibt zwar einerseits Sicherheit, verhindert aber andererseits jeden Lernprozess. Die zwei konzentrierten ihr soziales Interesse ausschließlich auf den jeweils anderen. Kontakte zu Artgenossen interessierten sie nicht, solange sie beisammen waren. In dieser unglücklichen Angstgemeinschaft konnten sie keinen Weg heraus annehmen.
Erste kleine Erfolge
Erst die Trennung und Durchbrechung der jahrelangen Gemeinschaft und in der Folge tief eingefahrener Verhaltensmuster ermöglichte eine erfolgreiche Therapie. Dabei reagierten die beiden Rüden sehr unterschiedlich. Während der kurzhaarige Burli es bereits nach sehr kurzer Zeit wagte, angebotene Leckerbissen vorsichtig „abzuholen", und sich dabei seinen menschlichen Betreuern bis auf wenige Zentimeter näherte, zitterte Struppi nach wie vor bei jeder Annäherung wie Espenlaub. Verstört saß der struppige Kerl in seiner Ecke, ein mitleiderregendes Bündel Angst.
Burli hingegen lernte rasch. Er akzeptierte schon bald ein Festhalten der kurzen Leine, die zu seiner Sicherheit, und um den täglichen Stress des Anleinens zu vermeiden, ständig an seinem Halsband befestigt blieb. Die Leine muss übrigens aus Metall sein, sonst würde ein pfiffiger Hund sie sofort durchbeißen. Ein solcher Zwischenfall könnte in ungesichertem Gelände fatale Folgen haben.
Nach wenigen Wochen leinenführig
Burli begriff, dass Angefasstwerden und sogar Hochheben ein zwar unerwünschter, aber gefahrloser Zustand ist. Und das Wichtigste: Er lernte bereits nach wenigen Wochen an der Leine zu gehen. Dabei gehorchte er offensichtlich einem einfachen Prinzip. Er maschierte immer neben seiner Betreuerin Christine her, Rute gesenkt bis waagrecht, Blick manchmal sorgenvoll zu ihr hochgerichtet, aber überwiegend zuversichtlich. Niemals zerrte Burli an der Leine, nur manchmal ein Ducken bei einem ungewohnten Geräusch. Christine war seine „Versicherung", er fühlte sich neben ihr geschützt – wie vorher durch die Gemeinschaft mit Struppi. Doch jetzt orientierte er sein Leben nicht mehr an Struppis angstvollem Verhalten, sondern an der ruhigen Gelassenheit seiner Betreuerin Christine. Der erste Schritt war geschafft, die Freude darüber groß. Christine ist überzeugt: „Ich bin mir ganz sicher, Burli würde mit mir bis ans Ende der Welt laufen, wenn er nur immer neben mir sein kann."
Therapie mittels eines zweiten Hundes
Anders Struppi. Der wuschelige Mischlingsrüde reagierte immer noch abweisend und panisch auf jede Annäherung. Um der Vereinsamung vorzubeugen und Anreize zu schaffen, wurde er zeitweise mit verträglichen Artgenossen „vergesellschaftet". Wichtigstes Kriterium bei der Wahl seiner vierbeinigen Gesellschafter war immer deren Grad an Kontaktfreudigkeit und Freundlichkeit Menschen gegenüber. Struppi sollte durch Beobachtung seiner Artgenossen lernen, Ängste abzubauen. Oft ist die Therapie über einen zweiten Hund die einzige Möglichkeit, an eine verstörte Hundeseele heranzukommen. Bei Struppi führte sie zumindest zu einem Unterbleiben der Zitteranfälle. Trotzdem erwies sich die stufenweise Annäherung in kleinen Schritten, ein Versuch der Desensibilisierung auf Angstreize, als nicht wirklich erfolgreich. Deshalb entschieden sich seine Betreuer für eine andere Vorgangsweise, die Angst zu durchbrechen. Struppi sollte während des Vormittags in der stark frequentierten Futterküche des Tierheimes angeleint werden. Es war nicht sicher, wie der sensible Rüde darauf reagieren würde, aber jeder Therapieversuch birgt auch Risiken in sich, die man zwar möglichst gering halten, niemals jedoch auschließen kann. Wichtig war es, alle Pfleger zu instruieren, Struppi vollständig zu ignorieren, ihn also keineswegs anzusprechen und auf gar keinen Fall zu berühren. Inmitten des Trubels sollte er keinerlei Beachtung erfahren und damit auch keiner speziellen Angstsituation ausgesetzt werden. Die Allgemeinsituation war durch die plötzliche Reizüberflutung ohne Rückzugsmöglichkeit belastend genug.
Keine Panik mehr
Zur Erleichterung aller hat Struppi die „Futterküchen-Therapie" unbeschadet überstanden und positiv darauf reagiert. Er hat gelernt, mit dieser Situation umzugehen und die Menschen, die rund um ihn beschäftigt sind, als ein notwendiges, aber ungefährliches „Übel", zu akzeptieren. Er kann mit der „Zwangsbeglückung Mensch" leben, und er hat es geschafft, an der Leine Spaziergänge ins Freie zu wagen. Grundsätzlich läuft Struppi heute mit Jedem mit, der das andere Ende der Leine hält. Er sucht nach wie vor keine körperliche Nähe und lässt Berührungen eher über sich ergehen, als dass er sie genießt. Aber er zeigt keine Panik mehr wie früher. Er ist auf dem richtigen Weg. Vermutlich wird er sich irgendwann einem Menschen, der viel Zeit für ihn hat, eng anschließen und Streicheln und Berührungen gerne annehmen. Bis dahin braucht es Geduld. Auf fremde Menschen wird er wahrscheinlich immer zurückhaltend reagieren.
Vierbeiniger Kaspar Hauser
Für einen unbeteiligten Besucher mögen Burli und Struppi nur zwei scheue und eher unzugängliche Hunde sein, für ihre Betreuer sind sie zwei äußerst tapfere kleine Kerle. Sie haben in nur wenigen Monaten vieles gelernt und mit Hilfe ihrer Pfleger gewagt, über ihren Schatten zu springen. Fünf Jahre sind eine unfassbar lange Zeit für Lebewesen, deren Lebenserwartung kaum dreimal höher liegt. Fünf Jahre „Gefängnis" haben sie aufarbeiten müssen, die beiden vierbeinigen „Kaspar Hausers", und sie haben viel Lob verdient. Verdient hätten sie sich auch ein Zuhause bei Tierfreunden mit Herz, Hirn und Geduld. Denn für Burli und Struppi gäbe es noch Einiges zu lernen. Das wäre in einem richtigen Zuhause natürlich viel einfacher. Denn trotz allem Engagement bleibt neben der täglichen Arbeit in einem Tierschutzheim doch immer zu wenig Zeit für jeden Einzelnen.
Wer sich für einen der beiden Mischlinge interessiert, kann sich im Tierschutzheim Krems über Struppi und Burli informieren. Tel.: +43 (0)2732/84 720 tägl. (außer Dienstag) von 14 – 16:30, oder auf Band sprechen. Kontaktperson: Christine Bruckmoser.